Grundlagen des Feng Shui: Yin und Yang
Veröffentlicht am Donnerstag, 13. November 2014Yin und Yang sind die wohl bekanntesten Paare der chinesischen Philosophie, doch sind sie mehr als einfache Gegensätze? Sind Yin und Yang immer gleichberechtigt? Und welche Rolle spielen sie im Feng Shui? Lesen Sie weiter, wenn Sie sich für die Ursprünge und Hintergründe dieses Konzepts interessieren.
Der historische Ursprung von Yin und Yang
Das traditionelle Schriftzeichen Yin besteht aus den Komponenten „Hügel“, „das Jetzt“ und „Wolken“. So kann dieses Zeichen als „von Wolken bedeckter Hügel“ interpretiert werden oder auch – weniger wörtlich – als „Schattenseite des Hügels“. Yang besteht aus den Komponenten „Hügel“ und „Sonne über dem Horizont“, demnach haben wir hier die „Sonnenseite des Hügels“. Vereinfacht gesagt wurden ursprünglich durch Yin und Yang die Nord- bzw. Südseite eines Hügels oder Berges bezeichnet.
Die ersten schriftlichen Erwähnungen von Yin und Yang als Begriffspaar finden wir im „Buch der Lieder“ Shijing, welches zwischen dem 11. bis 6. Jhdt. v. Chr. entstand. Yin und Yang haben zu dieser Zeit noch keine besondere philosophische Bedeutung, sondern sie dienen schlicht zur Beschreibung von Licht und Schatten in der Natur, wie wir sie in der wörtlichen Auslegung der Schriftzeichen finden. Schon ab dem 11 Jhdt. v. Chr. entsteht zwar das Konzept der acht Trigramme (Bagua), die aus einer Mischung von jeweils drei durchgehenden (Yang) oder unterbrochenen (Yin) Linien bestehen, doch die Philosophie des Yin und Yang wird erst ab etwa 400 v. Chr. konkrete Formen annehmen. Erst ab dieser Zeit sind Yin und Yang philosophische Konzepte für scheinbar gegensätzliche Erscheinungsformen wie Schatten und Licht, Weiblichkeit und Männlichkeit, Erde und Himmel.
Wuji erzeugt Taiji, Taiji erzeugt Yin und Yang
Wuji, das undifferenzierte, unendliche und bewegungslose Nichts enthält das Potenzial allein Seins. Wörtlich steht Wu für das „Nichts“ und Ji für das „Äußerste“ und damit für die Idee der Begrenzung. In Wuji gibt es also „kein Äußerstes“, keinerlei Grenzen. Es ist das undifferenzierte, grenzenlose Potenzial. Aus Wuji entsteht Taiji, das „höchste“ oder „größte“ (Tai) „Äußerste“ (Ji). Es ist das Prinzip des begrenzten Potenzials. Dadurch, dass es nun eine Grenze oder feste Form gibt, kann sich das Lebenskraftkonzept Qi manifestieren und Taiji bringt die „zwei Qi“ Yin und Yang hervor.
Übrigens findet man oft die veraltete Schreibweise „Tai Chi“ für Taiji, was leicht zu der Annahme führt, der Begriff hätte wörtlich etwas mit dem Lebenskraftkonzept Qi zu tun. Taiji steht zwar in enger Verbindung mit dem Qi, doch der Begriff bezieht sich nicht darauf.
In der Grafik oben, betitelt „Diagramm des Taiji im Konzept des Wandels“, sehen wir eine alternative Darstellung der Beziehung des Qi zu den konkreteren Ausdrucksformen. In der Mitte steht das grenzenlose Potenzial, gefüllt von Qi, welches dann von Taiji im ersten inneren Ring umrahmt oder begrenzt wird. Durch Begrenzung entstehen die „zwei Qi“ Yin und Yang, die wir im zweiten Ring vorfinden. Yin wird hier als „das Trübe“ bezeichnet und bezieht sich auf die feste Materie der Erde, während Yang, „das Klare“, auf die Ebene des Himmels verweist (vgl. „die drei Wirkungsebenen“ im letzten Artikel). Die nächsten Ringe beinhalten Zuordnungen aus dem Hetu sowie dem Bagua, über die Sie an an dieser Stelle mehr erfahren können.
Die Eigenschaften von Yin und Yang
Die bekannteste bildhafte Darstellung von Yin und Yang ist jedoch das sogenannte Diagramm des Taiji, das allerdings erst im 11. Jhdt. n. Chr. entstanden ist. Dieses kreisförmige Diagramm mit den zwei fischartigen weißen und schwarzen Hälften versinnbildlicht die Beziehung von Yin und Yang auf eine einfache und doch sehr vielschichtige Weise. Beide Hälften sind gleich groß und gleich geformt. Yang, der weiße Teil, steigt auf, während Yin, der schwarze Teil, absteigt, sie bewegen sich stets rhythmisch und zyklisch. Beide Hälften tragen einen Keim des anderen in sich, und obwohl sie scheinbar vollkommen gegensätzlich sind, ergänzen sich Yin und Yang und sind aufeinander angewiesen. Sie sind also keine feindlichen Gegenspieler, sondern mehr zwei Pole der einen Wirklichkeit.
Wichtig ist hier, dass das Diagramm eine Momentaufnahme darstellt. Tatsächlich stehen Yin und Yang stets in Interaktion. Am Punkt der höchsten Aktivität kommt Yang zum Stillstand und am Punkt des höchsten Stillstands kommt Yin in Bewegung. Dieser Umstand erinnert auch an den Wechsel von Tag und Nacht, und tatsächlich finden wir Yin und Yang auch wörtlich in den Bezeichnungen für Mond und Sonne: Taiyin und Taiyang. Auf der Darstellung des Taiji-Diagramms sind Yin und Yang vollkommen gleichberechtigt. Doch in der Philosophiegeschichte Chinas gab es Tendenzen, eine der Hälften höher zu bewerten als die andere.
Yin und Yang im praktischen Daoismus
Der Daoist strebt durch eine vollkommene Einordnung in den natürlichen Lauf der Dinge, dem ewigen Wandel, die Rückkehr zum Ursprung an, dem Zustand der Einheit des Wuji. Doch wie erreicht man diese Erleuchtung? Ein naheliegender Gedanke wäre, eine perfekte Balance zwischen Yin und Yang herzustellen. Im Daodejing (Tao Te King) von Laozi (Lao Tse) finden wir auch eine entsprechende Stelle in Kapitel 28, wo es heißt: „Wer seine männliche Seite kennt und sich seine weibliche Seite bewahrt, der wird für alles unter dem Himmel zum Kanal“. Ein bewusstes Ausbalancieren von Yin und Yang im Menschen soll also zum Leben im „Dao“, im Fluss der Dinge führen.
In späteren Kapiteln finden wir jedoch eine klare Betonung auf den Yin-Aspekt: „Rückkehr ist die Bewegung des Dao, Schwäche ist die Funktion des Dao“ (Daodejing Kapitel 40). In Kapitel 43 heißt es deutlich: „Das Weichste auf der Welt überwindet das Härteste auf der Welt“. Schwäche und Weichheit sind Attribute, die eindeutig dem Yin zugeordnet werden. So wie das scheinbar schwache Wasser harte Felsen aushöhlt und alles durchdringt, so überwindet Yin das Yang. Das philosophische Werk Huainanzi aus dem 2. Jhdt. v. Chr. liefert weitere Beispiele für das Potenzial des Yin: hartes Leder wird rissig, der starre Baum bricht, deshalb steht das Schwache und das Biegsame für das Leben, während das Harte und Starke vergeht.
Dieses Bild fand jedoch keinen Ausdruck in einer Gleichberechtigung von Mann und Frau in der frühen chinesischen Gesellschaft. Der hierarchische Konfuzianismus betonte in gewisser Weise die Yang-Aspekte, stand doch der Mann gesellschaftlich weit über der Frau.
Yin und Yang im Feng Shui
Je nach Anwendungsbereich wird Feng Shui traditionell in zwei Kategorien eingeteilt: Yin-Feng Shui und Yang-Feng Shui. Ein Schwerpunkt der frühen Anwendungen des Feng Shui war das Yin-Feng Shui. Es beschäftigte sich mit der optimalen Platzierung von Grabstätten, da die Ahnenverehrung in China ein fester Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens war. Durch eine Feng Shui-gerechte Grabstätte wurde der Verstorbene geehrt und die Nachkommen gestärkt. Yin-Feng Shui spielt auch heute noch eine Rolle in den asiatischen Ländern.
Das Yang-Feng Shui beschäftigt sich demgegenüber mit Wohnräumen und ist der Schwerpunkt in der modernen Anwendung des Feng Shui. Um ein Objekt nach Feng Shui zu beurteilen, müssen seine Yin- und Yang-Aspekte sorgfältig analysiert werden. Yin und Yang sind hier immer relativ zu sehen und der Bezugspunkt ist das Beratungsobjekt. Der Anschluss an die Straße, die Intensität des Verkehrs, hohe und niedrige Pflanzen und Gebäude in der Umgebung, der Lichteinfall — all diese Aspekte unterscheiden sich von Haus zu Haus. Auch die Raumnutzung durch die Bewohner, die Ebene des Menschen im Modell der „drei Wirkungsebenen“, beeinflusst die Gewichtung von Yin und Yang. Wird ein Raum beispielsweise als Schlafzimmer genutzt, so zählt er in diesem Kontext aufgrund seiner Bedeutung für Ruhe und Regeneration als Yin-Zimmer. Zu helle und knallige Farben könnten hier einen zu starken Yang-Aspekt hineinbringen und eine unruhige Raumatmosphäre erzeugen. Je nach Bedürfnis werden in der Feng Shui Beratung deshalb die Aspekte betont, die den jeweiligen Menschen am meisten unterstützen.
Das Konzept von Yin und Yang erinnert uns daran, dass alles im Fluss ist und sich ständig verändert. So, wie wir Phasen des „Auf“ und „Ab“ in unserem Leben haben, so bewegen sich auch Yin und Yang auf und ab. Diese rhythmische und zyklische Dynamik ist es, die das Leben als solches ausmacht. Kein Tag ist wie der andere. Damit wir als Reisende auf diesem Fluss nicht der Strömung hilflos ausgeliefert sind, können wir uns durch die Berechnungsmethoden des Feng Shui bewusst an den Zyklus des ständigen Wandels anpassen und somit stets optimal im Fluss von Yin und Yang sein.
Quellen:
Abbildung: Diagramm über das Taiji im Konzept des Wandels, aus: Cheng Dayue (1606): Chengshi Moyuan [Der Tuschegarten der Familie Cheng]
Deng, Ming-Dao (2006): The Living I Ching: Using Ancient Chinese Wisdom to Shape Your Life. New York: HarperOne
Hang, Thaddeus T’ui-chieh (1988): The Unity of Yin and Yang: A Philosophical Assessment. In: Liu & Allison: Harmony and Strife: Contemporary Perspective, East & West. Hong Kong: The Chinese University Press, S. 211-224
Hsiao, Paul Shih-yi (1983): Bipolarität als Ganzheit im Chinesischen Denken und Leben. Wien: Zeitschrift für Ganzheitsforschung, 27. Jahrgang, S. 147-158
Major, Queen, Meyer, Harold (2010): The Huainanzi: A Guide to the Theory and Practice of Government in Early Han China, by Liu An, King of Huainan. New York: Columbia University Press
Dieser Artikel wurde verfasst von Felix Niakamal