Wu Shu, die fünf traditionellen chinesischen Künste
Veröffentlicht am Donnerstag, 4. Juni 2015Was haben die traditionelle chinesische Medizin (TCM), chinesische Astrologie, Qigong und Feng Shui gemeinsam? Ist Feng Shui vielleicht sogar ein Teil der TCM? Auf welcher Grundlage konnten die frühen Chinesen diese Techniken entwickeln, die auch heute noch mit Erfolg angewendet werden? In diesem Artikel stelle ich Ihnen das System der fünf traditionellen chinesischen Künste vor, das auf anschauliche Weise die Verbindung scheinbar unabhängiger Techniken aufzeigt. Um das zu verstehen, müssen wir zunächst die fundamentalen Unterschiede der chinesischen Denkweise zu unserer erkennen.
Induktion und Synchronizität
Ein wichtiger Unterschied ist der Hang zur induktiven Denkweise, der sich angefangen bei der chinesischen Sprache bis hin zur Philosophie verfolgen lässt. Induktives Denken leitet Regeln von einzelnen beobachteten Phänomenen und deren Folgen ab, schließt also vom Speziellen auf das Allgemeine und gründet quasi auf (immer wieder erprobten) Erfahrungswerten. Man könnte sagen, anstatt des linearen Schwarz-Weiß-Denkens herrscht ein zyklisches „Yin-Yang-Denken“ vor, denn Yin und Yang tragen jeweils einen Teil des anderen in sich und gehen immer wieder ineinander über, sie sind miteinander verbunden. Auf dieser Grundlage lässt sich auch das Prinzip der Synchronizität erklären, das C.G. Jung durch seine Beschäftigung mit dem Yijing (I Ging) definierte. Demnach können gleichzeitig auftretende Ereignisse, die kausal nichts miteinander zu tun haben, als miteinander verbunden verstanden werden. Überlegen Sie nur, wann Sie das letzte Mal gesagt haben „…wenn man vom Teufel spricht“, vielleicht haben Sie sich gerade über eine andere Person unterhalten, die dann zufällig dazu stößt oder anruft?
Synchronizität ist die Basis für Techniken wie etwa Meihua Yishu, die „Pflaumenblüten-Numerologie“, die es erlaubt scheinbare Zufälle mit Hilfe der eigenen Intuition und des Yijings zu interpretieren. In den traditionellen chinesischen Techniken geht es stets darum, Beziehungen und Zusammenhänge eines Phänomens, Objekts oder einer Person zum „großen Ganzen“ zu beurteilen und daraus praktische Handlungsanweisungen abzuleiten. Der Mensch wird also als Teil der Natur und ihrer natürlichen Zyklen betrachtet.
Kultur, Philosophie und Sprache
Feng Shui und die anderen im Anschluss vorgestellten Techniken entwickelten sich innerhalb eines historischen, kulturellen und philosophischen Kontexts. Von besonderer Wichtigkeit ist hier der Daoismus, der die Welt und das Leben innerhalb eines Kreislaufs des Wandels beschreibt und die Grundkonzepte von Yin und Yang, den fünf Wandlungsphasen und den Trigrammen und Hexagrammen des Yijing hervorbrachte. Von Bedeutung ist auch die sprachliche Ebene, denn die besondere Struktur der chinesischen Sprache, die auf Analogien und Bildern basiert, erzeugte eine besondere Feng Shui-Fachsprache, die uns vor einigen Herausforderungen stellen kann. So werden viele Konzepte mit (für uns) blumigen Worten umschrieben, deren direkte Übersetzungen den Sinn nicht vollständig transportieren können. Ein Beispiel dafür ist die erste Kategorie der fünf traditionellen chinesischen Künste, die ich Ihnen gleich vorstellen, den ihr Titel kann ohne das Wissen um den breiteren kulturellen und sprachlichen Kontext nicht richtig verstanden und übersetzt werden.
Kulturelle Unterschiede wie das Analogiedenken der Chinesen können auf uns fremd wirken, doch ich bin davon überzeugt, dass diese Unterschiede nur oberflächlicher Natur sind und oft einfach andere Sichtweisen auf bekannte Sachverhalte darstellen. Mit ein wenig Fleiß werden die Grundkonzepte wie Yin und Yang, die fünf Wandlungsphasen und die acht Trigramme zugänglich und wir können ihre Anwendbarkeit und ihren Nutzen für unser modernes Leben, jenseits der unterschiedlichen kulturellen und historischen Wurzeln erkennen.
Die zu Anfang genannten Techniken wie TCM, Qigong und Feng Shui haben somit nicht nur philosophische und historische Gemeinsamkeiten, sondern gründen auch auf denselben Grundkonzepten: den Theorien des Qi, Yin und Yang und den chinesischen fünf Wandlungsphasen. Diese Techniken lassen sich in fünf verschiedene Kategorien einordnen, die als die fünf traditionellen chinesischen Künste, Wu Shu bezeichnet werden.
Wushu, die fünf traditionellen chinesischen Künste
Das chinesische Wort, das ich hier mit „Kunst“ übersetze (Shu), ist wie so viele chinesische Worte relativ vielschichtig. Obwohl sich Shu im weitesten Sinne auch auf die „schönen Künste“ bezieht, hat es doch einen sehr technischen Aspekt. Wenn wir auf deutsch von Heilkunst oder Baukunst reden, kommen wir der Bedeutung von Shu als Kunst sehr nahe. Die fünf traditionellen chinesischen Künste können als fünf Kategorien von Techniken verstanden werden, die alle auf denselben Grundlagen des daoistischen Weltbilds basieren.
Shan – Daoistische Langlebigkeitstechniken
Das Schriftzeichen „Shan“ bedeutet eigentlich „Berg“ und ist unter anderem ein Schlüsselbegriff im Feng Shui, deshalb könnte man leicht den Schluss ziehen, die Kategorie Shan befasse sich mit geographischen Techniken. Tatsächlich umfasst Shan aber die sogenannten daoistischen Langlebigkeitstechniken (Yangsheng) oder Techniken zur spirituellen Kultivierung (Yangxing) wie Meditation, Qigong und eine besondere Ernährungslehre. Auch Gongfu (Kung Fu) und Taijiquan (Tai Chi Chuan) zählen zu dieser Kategorie.
Die Verbindung dieser Techniken zum Berg (Shan) können wir verstehen, wenn wir uns weiter mit der chinesischen Sprache beschäftigen. Als Berg-Person (Shanren) bezeichnete man Einsiedler oder Eremiten, die sich zwecks Selbstkultivierung auf einsame Berge zurückgezogen haben.
Vereint man die Schriftzeichen für Berg (Shan) und Mensch (Ren) erhält man das Schriftzeichen Xian, das einen daoistischen Unsterblichen beschreibt. So gibt es in der chinesischen (halbmythologischen-) Geschichte einige Individuen, die sich selbst durch die Ausübung der daoistischen Langlebigkeitstechniken soweit perfektionierten, dass sie zum Unsterblichen aufsteigen konnten und dann sogar in die Reihe der daoistischen Gottheiten aufgenommen wurden.
Yi – Traditionelle chinesische Medizin
Die Kategorie Yi steht für die traditionelle chinesische Medizin, die auf Basis der fünf Wandlungsphasen sowie Yin und Yang Therapien durch Akupunktur, Moxibustion, Massagen oder individuell zusammengestellten Arzneimitteln bietet.
Xiang – Analysen des Erscheinungsbilds
Das Schriftzeichen Xiang steht für das Aussehen oder die Erscheinung, deshalb beschäftigen sich die Techniken dieser Kategorie mit der Analyse des Erscheinungsbildes. Hierzu gehört die Technik des chinesischen Gesichtslesens, Mianxiang (auch bekannt als Physiognomie), sowie die Technik der Umgebungsanalyse, Feng Shui.
Bu – Divination
Die Kategorie Bu setzt sich aus vielen unterschiedlichen Techniken der Divination zusammen. Einige Techniken basieren auf dem Yijing, so wie beispielsweise die oben genannte „Pflaumenblüten-Numerologie“ Meihua Yishu oder die verbreitete Befragung des Yijing durch das Werfen von Münzen oder Stäbchen. Andere Techniken beziehen sich auf astronomische und klimatologische Konzepte wie den 60-stelligen Zyklus (Jiazi), auf dem der traditionelle chinesische Kalender aufgebaut ist.
Die traditionellen chinesischen Divinationstechniken sollten nicht mit Wahrsagerei verwechselt werden, denn sie verlassen sich weniger auf die Intuition (oder göttliche Inspiration) als auf hochkomplexen Berechnungen. Diese Techniken beziehen die Ebene der Zeit mit ein und beschäftigen sich mit Prognosen über den günstigen oder ungünstigen Ausgang von Ereignissen. Qimen Dunjia etwa wurde zunächst in der Kriegsführung eingesetzt. Ziel dieser Technik ist es, den besten Ort oder die beste Richtung für die Umsetzung einer bestimmten Aufgabe zu einer bestimmten Zeit zu ermitteln.
Die Divinationstechniken beschäftigen sich je nach Schwerpunkt mit gesellschaftlichen bis globalen Entwicklungen und Ereignissen oder den Bewegungen von Gruppen, wie etwa einem Heer. Diese Techniken bezogen sich also ursprünglich nicht auf Einzelpersonen. Heutzutage werden Divinationstechniken wie Qimen Dunjia, Da Liu Ren oder Taiyi Shenshu jedoch meist zur Wahl günstiger Daten eingesetzt, wenn es darum geht, ein neues Projekt (Bauvorhaben, Firmengründung usw.) anzugehen sowie bei Umzügen oder Hochzeiten.
Ming – Schicksalsberechnungen
Anders als die Divinationstechniken befassen sich die Techniken der Kategorie Ming mit persönlichen Schicksalsberechnungen und Potenzialanalysen. Hier steht also der Mensch im Mittelpunkt. Das Schriftzeichen Ming steht hier sowohl für das (vom Himmel) vorherbestimmte Schicksal des Menschen, als auch für das Leben an sich. Die Techniken der Schicksalsberechnungen lassen sich nochmals in zwei Unterkategorien unterscheiden: Astrologische Techniken wie Ziwei Doushu und klimatologische Techniken wie Bazi Suanming.
Die fünf traditionellen chinesischen Künste heute
Das daoistische Weltbild sieht den Menschen als Bestandteil der Natur bzw. des größeren Kontexts. Je nach Ansatz der jeweiligen Technik geht es also um die Interaktion von Mensch, Raum und Zeit. Dabei ist wichtig zu verstehen, dass Feng Shui und seine verwandten Techniken keine statischen Konstrukte sind, sondern lebendige Systeme, die sich auch in unseren modernen Zeiten weiterentwickeln und anwenden lassen. So gab es beispielsweise in der früheren Geschichte des Feng Shui immer wieder Phasen der Evaluation, Weiterentwicklung oder sogar Verwerfung der Methoden. Die historischen Persönlichkeiten, die wir heute als die großen Feng Shui-Meister der Vergangenheit kennen, haben jeweils einen großen Beitrag geleistet, indem sie ihre Erkenntnisse in Büchern und neuen Formeln weitergegeben haben oder die Messtechniken mit den neuesten Erkenntnissen der Technik ihrer Zeit aktualisierten.
Alle Techniken der fünf traditionellen chinesischen Künste haben das Wohl des Menschen zum Ziel. So unterschiedlich die einzelnen Ansätze auch sind, es geht stets darum, den Menschen in Einklang mit seiner Umgebung und dem natürlichen, zyklischen Lauf der Dinge zu bringen, sodass er sein volles Potenzial ausschöpfen kann. Obwohl diese Techniken schon Hunderte von Jahren alt sind, haben sie bis heute überdauert und bieten uns auch in unseren modernen Zeiten interessante Mittel und Wege, uns selbst und unsere Umwelt besser zu verstehen.
Dieser Artikel wurde verfasst von Felix Niakamal
4 Kommentare
Danke für die Darlegung des WuShu. Es hilft Ordnung in das Chaos unterschiedlichster Informationen der angesprochenen Themen zu bringen.
Hallo Danusch,
vielen Dank für den tollen Beitrag. Soweit ich weiß wurde „Wushu“ ja auch sehr abfällig und pauschalisierend auch als „Zauberei“ oder „Esoterik“ übersetzt. Da bringt Dein Artikel wirklich eine Klarheit Es wird sichtbar, dass der gesamte Themenkomplex viel tiefgründiger ist. Es ist doch bemerkenswert, dass unter dem Begriff „WuShu“ die chinesische Medizin zusammen mit Horoskopberechnungen oder Zukunftsvorhersagen genannt wird. Die chinesische Medizin läßt sich ja, zumindest für den Behandeln selbst, durchaus auch als eine spirituelle Praxis verstehen – große Teile beschäftigen sich ja auch mit „Shen“-Aspekten, was ja auf eine Form der Selbstkultivierung verweist. Da kommt die westliche Medizin im Vergleich ziemlich schlecht weg ;-).
Hallo Peter,
vielen Dank für den Hinweis auf die „Zauberei“ und „Esoterik“! Vielleicht hätte ich es im Artikel erwähnen müssen, es gibt noch zwei weitere chinesische Begriffe, die in der Umschrift als Wu Shu (oder Wushu) geschrieben werden: die Zauberei (巫术) und die Kampfkunst (武术). Letzteres ist unter dem Begriff Wushu relativ bekannt, deshalb habe ich das Wu Shu, um das es in diesem Artikel geht, getrennt geschrieben.
Dein Hinweis auf die spirituelle Praxis ist wirklich sehr interessant, das zeigt, auf wievielen Ebenen die traditionellen chinesischen Systeme greifen.